Wie Einstein sagte: Alles ist relativ...

Ich bin jetzt weit in den Vierzigern und denke ich habe die Hälfte meines Lebens bereits durch. Ich bin nicht wirklich alt – zumindest fühle ich mich nicht so – aber frisch wie der Frühling bin ich eben auch nicht mehr. Für mich und einige Freunde von mir fühlt sich der aktuelle Ausnahmezustand trotzdem schon relativ lange an. Ich komme zunehmend an einen Punkt an dem sich meine Reflexe verschieben und ehrlich gesagt das macht mir Angst.

 

Ich erinnere mich, dass ich zu Beginn der Pandemie so einiges seltsam fand. TV-Studios und Stadien ohne Zuschauer: das sah einfach total seltsam aus. Menschen die mit vermummten Gesichtern durch den Supermarkt liefen: creepy! TV-Sendungen die vor Corona produziert wurden, gaben einem letztes Jahr noch das Gefühl von "normal" um das aktuelle Geschehen wenigstens in den eigenen vier Wänden irgendwie hinter sich zu lassen. Aber ich bin jetzt nach einem Jahr an dem Punkt an dem ich mich daran gewöhnt habe, dass nach einem Statement in einer Talkshow kein Applaus kommt. Ich habe nicht mehr das Gefühl der Fernseher wäre kaputt wenn ich bei einem Bundesligaspiel plötzlich hören und verstehen kann was sich die Spieler zurufen. Selbst wenn das eigentlich schon ein immens befremdlicher Zustand wäre, ist das kein Vergleich dazu, dass es mich mittlerweile wie ein Blitz des Entsetzens durchfährt wenn ich im Fernsehen Menschen sehe die Einen zusammen trinken, sich in den Armen liegen oder in Trauben zusammenstehen. Klar, verstehe ich unmittelbar danach, dass ich eine Sendung sehe die vor ein paar Jahren gedreht wurde. Aber, dass ich mittlerweile diese Distanz für "richtig" und persönliche Nähe als "falsch" empfinde ist nicht nur bedenklich sondern richtig erschreckend. Es ist als wäre mein Kompass verstellt.

 

Nun ist es aber so, dass ich es 46 Jahre anders erlebt habe, und dieses eine Jahr macht gerade mal 2% meines Lebens aus. Anteilig relativ wenig im Vergleich zu meiner bisherigen Lebenszeit, dennoch spüre ich die Auswirkungen dieses relativ kurzen Zeitraumes an mir bereits sehr deutlich. Wenn ich nun meine Tochter mit ihren 12 Jahren als Beispiel nehme, dann macht dieses eine Jahr schon 8% ihres Lebens aus. Sie hat im Vergleich zu mir wesentlich weniger Erinnerungen an "vorher" als ich. Bei einem dreijährigen Kind sprechen wir bereits von einem Drittel seines gesamten Lebens. Da im ersten Jahr aber wenig reflektierte Wahrnehmung und echte Erinnerung erst mit Beginn der Sprache stattfindet, kann man eigentlich die ersten 1,5 Jahre kaum in diese Rechnung miteinbeziehen. Heisst theoretisch, dass dieses Kind quasi keine Erinnerung an "vorher" hat. Ich stelle es mir somit sehr schwer vor bei den ganz Kleinen diesen Verlust von sozialem Leben danach wieder aufzuholen.

 

Man muss unbedingt auch bedenken, dass Menschen nicht zum Spass in Pflegeheimen wohnen. Nur weil man alt ist muss man nicht automatisch in eine Einrichtung. Es gibt viele alte Menschen die sehr lange in ihrem eigenen Zuhause alt werden können. Doch wenn es soweit kommt, ist der Mensch mit großer Wahrscheinlichkeit im allerletzten Lebensabschnitt angekommen, der im Prinzip einem Wettlauf gleichkommt. Er kann somit die Pandemie nicht in gleichem Maße in der Isolation "aussitzen" wie ein 45 jähriger. Diese Zeit hat er einfach nicht. Man kann einen Baum der zeitlebens in eine bestimmte Richtung gewachsen ist, nicht nach Jahrzehnten einfach verbiegen um ihm eine andere Richtung zu geben. Somit muss es erlaubt sein, die Beschlüsse im Umgang mit unseren Ältesten in Bezug auf den ethischen Aspekt in Frage zu stellen. Es mag polemisch anmuten aber würden wir einen vorerkrankten 45 Jährigen in einem Krankenhaus einsperren um ihn zu schützen?

 

Die Politik macht in meinen Augen den Fehler immer von der eigenen Wahrnehmung auszugehen. Ein Politiker mitten in seinen Vierzigern hat sein jugendliches Leben schon gelebt und befindet sich bereits im "verantwortungsbewussten" Teil seines Lebens. Er hat vermutlich bereits Kinder aber ist wahrscheinlich auch noch Sohn. Die Geburt ist relativ lange her, aber bis zum Tode ist es vermutlich auch noch relativ lange hin. Er kann sich also an das Eine nicht mehr erinnern und sich das Andere noch nicht so recht vorstellen. Es ist beides nicht sein Blickwinkel. Seine Eltern kennt er seit seiner Geburt, die will er nicht hergeben. Er kann aber deren Sicht auf die Dinge nicht nachempfinden. Somit ist alles was er empfindet und versteht die Position eines Elternteils, das weder seine Eltern noch seine Kinder verlieren will. Aus diesem Blickwinkel kann man aber keine Entscheidungen für Kinder und Ältere treffen die bei denen so angemessen sind wie bei der eigenen Altersgruppe.

 

Weil wir diese Beschlüsse aus unserem Blickwinkel, auch für unsere Jüngsten und Ältesten ohne jemals in deren Schuhen gelaufen zu sein, treffen, lassen wir unseren Nachwuchs und unsere Pflegeheimbewohner in der Isolation zu Hause oder im Heim vereinsamen und glauben, dass dies in deren Sinne ist. Anders ist dies nicht zu erklären. Aber es gibt einfach Dinge die lassen sich für manche Menschen nach der Pandemie nicht mehr aufholen. Die einen sind dann nicht mehr da und die anderen haben eventuell eine Prägung die nicht mehr vollständig rückgängig gemacht werden kann. Auch das ist ein Versäumnis das relativ bewertet werden kann.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0